„Das Experiment sind wir“ – Christian Stöcker über „menschheitsgeschichtlich Einzigartiges“

Derzeit werden wir medial fast täglich mit neuen Digitalisierungs-„Geschichten“ konfrontiert:

  • Vor ein paar Tagen wurde vermeldet, dass zwei deutsche Parteien zur Optimierung ihres Wahlkampfes 2017 bei der Deutschen Post im großen Stil Kundendaten erworben haben. Ungeachtet dessen, dass sich die Deutsche Post und die beteiligten Parteien auf das geltende Datenschutzrecht beziehen, zeigt der Fall, dass sich klassischer politischer Meinungsaustausch im Zuge der digitalen Möglichkeiten immer mehr zum (angewandten) Polit-Marketing entwickelt, ganz im Sinne des Markt- und Effizienzprinzips.Von daher ist es  verwunderlich, wie wenig darüber ethisch und politiktheoretisch diskutiert wird.
  • Das liegt aber vielleicht auch daran, dass die Debatte von einem größeren Datenskandal  überschattet wird – nämlich von dem um den Internetriesen Facebook.  87 Millionen Nutzer weltweit sollen von dem Datenzugriff durch Dritte (Cambridge Analytica) betroffen sein (Quelle:  https://netzpolitik.org/2018/facebook-datenabgriff-von-87-millionen-nutzern-ist-nur-spitze-des-eisberges/ ).Zum ersten Mal in seiner Unternehmensgeschichte scheint Facebook wirklich in Probleme zu geraten: Gründer und CEO Mark Zuckerberg muss sich im US-amerikanischen Senat erklären,  auch der Aktienkurs ist beachtlich gefallen.
  • Und auch bei einem weiteren Digitalisierungs-Pionier kriselt es. Im Internet kursiert das Video eines Unfalls mit einem autonom fahrenden Uber-Testfahrzeug, das schlichtweg nicht gebremst hat. Eine die Straße überquerende Fahrradfahrerin wurde frontal erfasst. Sie ist verstorben.

 

Christian Ströcker, Spiegel-Kolumnnist und Professor für „Digitale Kommunikation“ an der „Hochschule für Angewandte Wissenschaften Hamburg“ hat diese neusten Ereignisse um Facebook und Uber als Schablone für einen ganz  grundsätzlichen Artikel zur Digitalisierung genutzt. Den Artikel finden Sie hier: http://www.spiegel.de/wissenschaft/mensch/menschheitsgeschichte-das-experiment-sind-wir-a-1199596.html Stöcker glaubt nämlich, dass die beiden Ereignisse mehr miteinander zu haben, als es auf den ersten Blick erscheint. Er interpretiert sie als Beispiele eines gegenwärtig ablaufenden und menschengeschichtlich einzigartigen Vorgangs: nämlich der technologischen exponentiellen Entwicklung, die die Menschen zu reinen Versuchsobjekten eines größeren, von ihnen unabhängig ablaufenden Geschichtsprozesses macht. Pointiert bemerkt er:

„Wir stecken mitten in einer exponentiellen Entwicklung, schon seit Jahrzehnten, aber wir sind nach wie vor unfähig, das wirklich zu begreifen.(…) Wir sind das größte Experiment der Menschheitsgeschichte. Allerdings eines ohne Kontrollgruppe: Können siebeneinhalb Milliarden Menschen, die die Exponentialfunktionen nicht wirklich begreifen, mit einer sich exponentiell verändernden Welt umgehen oder nicht?“

Stöcker erklärt dabei anhand gut verständlicher Beispiele die Logik und die Probleme der technologischen Exponentialität und  geht auch zurück in die Technikgeschichte (vom Auto bis zum Smartphone), um  dies noch besser zu verdeutlichen. Er diskutiert die Kollateralschäden und Unvorhersagbarkeiten des technologischen Fortschrittes und die besondere und „unglaublich mächtige“ Kopplung mit seinem „dunklen Bruder“ – dem Kapitalismus. Schließlich skizziert er in einem Ausblick, was noch von dem Forschungsbereich künstlich neuronaler Netze zu erwarten ist. Denn hier wird mittlerweile Software gebaut, die dem Prinzip der Evolution nachempfunden ist und sich per Selektion völlig selbstständig verbessern kann.

Angesichts dieser Entwicklungen  fordert Ströcker sicher zurecht Strategien des gesellschaftlichen und individuellen Umgangs damit. Hier liegt aber auch das große Problem des gegenwärtigen Diskurses.  Tatsächlich ist bisher nämlich völlig ungeklärt, wie wir einen Prozess, dem zumindest einige Wissenschaftler und Trendforscher unterstellen, exponentiell zu sein (sicher kann man das auch bestreiten!), überhaupt sinnvoll gestalten können, wenn wir als Spezies selbst nicht auf dieser Basis denken, handeln, entscheiden, funktionieren (können)? Wo also überhaupt ansetzen, wenn es um die Entwicklung von individuellen und kollektiven Strategien geht?

Was meinen Sie dazu? Glauben auch Sie, dass sich der technologische Wandel anhand der Exponentialfunktion beschreiben lässt? Und was bedeutet das für unseren Anspruch, die Digitalisierung menschgerecht zu gestalten? Denn laufen wir mit dieser Ansicht nicht Gefahr, zu leugnen, dass es immer noch Menschen sind, die entscheiden, welche Technik wir in welchem Grade nutzen wollen oder nicht (ob das Parteien sind, Cambridge Analytica, KI-Forscher oder Uber)?  Bringen Sie sich gerne in diesen wichtigen Diskurs ein.