Schöne neue digitale Welt? Philosophischer Stammtisch mit Precht, Welzer und Gentinetta

Zunehmend entwickelt sich zumindest am Rande des gesellschaftlichen Mainstreams ein breiterer und ganzheitlicher Diskurs zu den gegenwärtigen und zukünftigen Entwicklungen, Herausforderungen, Folgen und Problemen der Digitalisierung. Auch der Schweizer Sender „SRF Kultur“ hat sich mit seiner Reihe „Sternstunde Philosophie“ vor einigen Tagen dem Thema  unter dem Titel „Schöne neue digitale Welt?“ gewidmet. Dabei diskutierten der Sozialpsychologe und Soziologe Harald Welzer mit dem Philosophen Richard David Precht und der Politik-Philosophin Katja Gentinetta unter der Moderation von Barbara Bleisch (siehe Video dazu unten).

Precht und Welzer machen dabei an verschiedenen Stellen des Gesprächs auf die bereits bestehenden antidemokratischen Strukturen der digitalen Wirtschaft und Gesellschaft aufmerksam. Precht sieht gerade mit den großen Digitalkonzernen den Aufstieg eines neokybernetischen Menschenbilds, das auf informationeller Fremdbestimmung beruht, während Welzer die für eine Demokratie notwendige Trennung von Privatheit und Öffentlichkeit und dessen „Zusammenbruch“ im digitalen Zeitalter beschreibt. Beide kritisieren auch das aus dem Silicon Valley kommende, aber auch von einer breiten Mehrheit und selbst von Digitalisierungs-Warnern geteilte Narrativ einer quasi-gesetzmäßigen kommenden Technikevolution („Was technologisch machbar ist, wird auch passieren …“; „Wir werden erleben…“; „Das wird so und so kommen …“)  und erklären sozialwissenschaftlich fundiert, dass Technologie- und Innovationsentwicklung auch in der Geschichte der Menschheit immer in bestimmten gesellschaftlichen Kontexten und Konfliktfeldern stattgefunden hat und daher auch immer aktiv gestaltet wird und schließlich auch anerkannt werden muss.  Überhaupt positionieren beide Autoren immer wieder ähnliche Argumente: auch unser gegenwärtiges Leistungs- und Arbeitsmodell stellen sie vor dem Hintergrund der kommenden Automatisierung unserer Wirtschaft in Frage, diese einzig und allein  auf Besteuerung der Arbeit fußende Modell sei schon bald nicht mehr tragfähig.

Gentinetta bezieht sich dagegen entdramatisierend auf frühere industrielle Revolutionen und meint, dass bisher jeder dieser technologischen Umbrüche in der Summe mehr Arbeitsplätze geschaffen als abgebaut hat. Dabei betrachtet sie, wie Precht richtig anmerkt, aber nicht die Entwicklung des realen Arbeitsvolumens. Auf der Ebene des individuellen Verhaltens (bspw. Suchtverhalten bei Smartphone, Internet) vertraut sie auf die persönliche Selbstverantwortung des Einzelnen, während sie auf der Ebene der Wirtschafts- und Sozialpolitik zwar Reformbedürftigkeit sieht, aber vor einer „Revolution“ bestehender, in ihren Augen grundsätzlich funktionierender Wirtschafts- und Sozialsysteme warnt (neben einem Bedingungslosen Grundeinkommen sieht sie hier auch die Forderungen für Finanztransaktionssteuer oder Robotersteuer kritisch). Auch bei dem Klimaproblem macht sie auf bereits laufende Politik-Anstrengungen aufmerksam. Dem kontert Harald Welzer mit dem Argument, dass es bei aller schönen Rhetorik in Politik und Wirtschaft bisher keinen wirklichen Klimaschutz bzw. es für eine solche optimistische Ansicht allein auf Basis der naturwissenschaftlich-empirisch belegbaren Fakten (Verbrauch der fossilen Energieträger/Einlagerung des CO2 in Atmosphäre steigt weiter an) keinen Grund gäbe. Einig sind sich aber letztlich alle Autoren, dass man die Dinge vernetzt sehen muss und die Digitalisierung und der Klimawandel als komplexe Problemlagen bspw. nur im Gleichschritt angegangen werden können.

Was halten Sie von den Argumenten und der Diskussion? WIE konkret können wir eine solche digitale und nachhaltige Gesellschaft gestalten (das kommt noch etwas zu kurz in den Beiträgen), was sind konkrete Strategien und Schritte zur wirksamen Eindämmung des Ressourcenverbrauchs oder der Macht der Digitalkonzerne? Und müssen wir dafür nicht auch unsere traditionellen Definitionen von Fortschritt, Wachstum, Innovation gänzlich neu interpretieren? Oder reichen wirklich ein paar kleinere „Operationen“ am (globalen) Betriebssystem unserer Wirtschaft und Gesellschaft, um die besprochenen Probleme lösen zu können, wie Gentinetta meint? Wir von „Philos Digitalisierung. Menschgerecht“ werden nun zunehmend unseren ganz eigenen Ansatz, der Theorie und Umsetzung einer digitalen und nachhaltigen Zukunft sinnhaft miteinander verbindet, in den gesellschaftlichen Diskurs bringen. Bis dahin freuen wir uns, wenn Sie sich auch zu dem Thema einbringen – für einen menschgerechten Weg der Digitalisierung.