Gertraud Teuchert-Noodt: Die digitale Revolution verbaut unseren Kindern die Zukunft

Gegenwärtig kann man den medialen und politischen Diskursen immer wieder die Forderung entnehmen, dass auch der Bildungssektor einer „digitalen Revolution“ bedarf. Und das Rezept wird meistens gleich „mitgeliefert“: letztlich gehe es vor allem um die Finanzierung einer breitflächigen Ausstattung mit verschiedenen digitalen Geräten für den Schulunterricht, um auch unsere Jugend „wettbewerbsfähig“ für die Zukunft aufzustellen. Dabei ist  nicht nur der reine Technizismus dieser schlichten Methodendebatte  verwirrend (man könnte daraus nämlich im Grunde ableiten, alles was unseren Schulen heute fehlt, sind ein paar I-Pads und Laptops für Jeden), auffallend ist auch das systematische Ignorieren wissenschaftlicher Erkenntnisse zu den Risiken und Wirkungen von zu viel medialen Bildschirmerfahrungen bei Kindern.

Gerade dieses Forschungsfeld ist stetig am Wachsen. Bekanntlich hatte bereits der rennommierte Mediziner und Neurowissenschaftler Manfred Spitzer mit seinem Bestseller „Digitale Demenz“, der auch eine Übersicht über internationale Studien dazu liefert,  auf die Probleme und Gefahren eines intensiven Medienkonsums aufmerksam gemacht und sich auch immer wieder öffentlich gegen den Digitalpakt (Milliardenpaket für Schulen zur Ausstattung mit digitalen Endgeräten) ausgesprochen. Auch seine Kollegin, die Neurobiologin Prof. Dr. Gertraud Teuchert-Noodt, hat einen kurzen Text mit dem Titel „Ein Bauherr beginnt auch nicht mit dem Dach – Die digitale Revolution verbaut unseren Kindern die Zukunft“ verfasst. Den Text können Sie hier einsehen:

http://www.aufwach-s-en.de/wp-content/uploads/2017/07/Teuchert-Noodt_2016_umg_4_16_Kinder.pdf

Teuchert-Noodt beschreibt in dem Artikel auf Basis evolutionstheoretischer Prämissen und neurobiologischer Forschungsergebnisse den Ablauf der frühkindlichen Gehirnentwicklung bis zum Alter von 12-14 Jahren und macht deutlich, wie intensiver Konsum medialer Digitalgeräte diesen natürlichen Entwicklungsprozess („Bauplan“) durch kognitive Überforderung stört und schließlich negativ und irreversibel beeinflusst. Sie spricht dabei in Bezug auf mediale Bildschirmerfahrung im frühkindlichen Alter  von einem regelrechten „kognitiven Super-GAU“, beschreibt detailliert die Einflüsse des Medienkonsums auf verschiedene Gerhinbereiche der Kinder und benennt auch die konkreten Folgen. Diese reichen von Konzentrations- und Merkstörungen zu Suchtproblemen bis hin zu Autismus, wobei diese frühkindlichen Erfahrungszusammenhänge tiefliegende neurologische Störungen für das restliche Leben produzieren, sich also in den neuronalen Netzen strukturell festsetzen können.

Teuchert-Noodt fordert auf dieser wissenschaftlich abgedeckten Basis ein Verzicht auf digitale Geräte im Kindergarten und der Grundschule – dieser hochsensiblen Phase des Gehirns des Menschen, wo dessen Umweltabhängigkeit eben besonders hoch ist. Erst danach sollten die Geräte situativ und sinnvoll in den Unterricht eingeführt werden. Für das vielbesprochene Thema der „Medienmündigkeit“, die in Schulen gelehrt werden soll, gelte so das Paradox, dass diese gerade dadurch gefördert werde, wenn man den Kindern die Geräte bis zum Alter von bis 12-14 Jahre in der Schule vorenthalte.

Auch wir beschäftigen uns in unserer anstehenden Buchpublikation mit dem Bildungssektor als einem der zentralen, wenn nicht dem zentralen Lebensfeld unserer Gesellschaft. Kritisch nehmen wir dabei nicht nur die Ideologie der Digitaltechniken in den Blick. Wir fordern auch eine Rückkehr zum Humboldtschen Menschenideal in der Bildung im Kontext der Herausforderungen, die die Digitalisierung und andere komplexe Themen unseren zukünftigen Generationen bereiten werden.Was meinen Sie zu dem Thema? Und wie können wir einen Diskurs schaffen, in dem Bildung wieder ganzheitlich thematisiert wird und nicht auf ökonomische und technische Effizienz reduziert wird? Bringen Sie sich gerne ein – für einen menschgerechten Wandel der digitalen Gesellschaft.